13 Jahre nach der Uraufführung im NTGent und elf Jahre nach der Deutschen Erstaufführung zeigen wir Johan Simons’ Inszenierung Gift. Eine Ehegeschichte von Lot Vekemans zum allerletzten Mal – in Originalbesetzung mit Elsie de Brauw und Steven van Watermeulen am 15.10.2022 in den Kammerspielen! Im Programmheft zur Bochumer Aufführung schreibt Dramaturg Koen Tachelet über komplizierte Trauer und tröstende Kraft.

Das Theaterstück Gift. Eine Ehegeschichte wurde 2009 am NTGent uraufgeführt. Elsie de Brauw spielte hier bereits in Lot Vekemans’ Stück Schwester von, einem Monolog über die „vergessene“ Schwester der antiken Heldin Antigone, Ismene. Auch in Gift. Eine Ehegeschichte geht es um Menschen, die versuchen, mit dem zu leben, was nicht da ist, es aber hätte sein sollen.

Die Autorin Lot Vekemans über die Entstehung des Stücks: „In der Zeit, in der Schwester von gespielt wurde, saßen Elsie und ich zusammen, und als ich sie fragte, worum es im nächsten Stück gehen könnte, antwortete sie einfach: über einen Mann und eine Frau, die ein Kind verloren haben. So. Dann war es für eine Weile still. Es ist auch einfach ein schweres Thema. Der Verlust des eigenen Kindes ist eines der schrecklichsten Dinge, die einem im Leben passieren können. Ich habe die Auswirkungen eines solchen Dramas in meiner unmittelbaren Umgebung erlebt. Deshalb zögerte ich zuerst, aber die Idee ließ mich nicht los. Was passiert mit dir, wenn dir der Boden unter deinen Füßen weggezogen wird? Wie geht man damit um, wenn das Schicksal einem plötzlich den Halt nimmt?“

Kerzen an Straßenrändern, Kränze auf Grabsteinen, Frauen, die über den Leichen ihrer toten Männer und Söhne klagen, Soldaten, die bei den Beerdigungen ihrer Kameraden Maschinengewehrsalven in die bloße Luft schießen, blasse Frauen unter schwarzen Schleiern, einsame Witwer, Witwen, die vor Tränen taumeln. Die medialen Bilder von schwerer Trauer vermögen es kaum, das Gefühl zu vermitteln, das ihnen zu Grunde liegt. Man trägt nicht bloß Trauer, man trägt sie in sich, oft noch Jahre nach einem erlittenen Verlust. Psycholog*innen sprechen von „komplizierter Trauer“. Wie sieht diese hartnäckige Trauer aus? Trauer, die einem den Atem nimmt. Trauer, die sich in allen Ritzen festsetzt, die man nicht aussperren kann. Und was passiert, wenn der Schmerz selbst zum Grund für die Existenz wird, wenn Trauer zum einzigen Motor des Denkens und Handelns wird? Laub, das der Luft entzogen ist, beginnt zu verrotten. Eine Wunde, die nicht belüftet wird, beginnt zu stinken. Trauer ist nicht immer reinigend, sie kann Menschen vergiften und von innen heraus zerfressen. Trauer ist nicht die Salbe, sondern die Wunde.

Wenn man von Trauer spricht, landet man schnell bei stereotypen Bildern. Trauer ist eine der universellsten Erfahrungen und dennoch schwer zu greifen. Auch Lot Vekemans, die Autorin von Gift. Eine Ehegeschichte, scheut sich nicht vor Typischem. Die Porträts, die sie von ihren beiden Figuren malt, sind erkennbar und in gewisser Weise schlicht. Die eine steckt in der Vergangenheit fest, der andere versucht, die Tür zur Zukunft zu öffnen. Der eine will die Vergangenheit aufarbeiten, die andere will, dass endlich alles gut wird. Der Mann und die Frau in Gift. Eine Ehegeschichte stoßen auf das, womit viele Menschen nach einem Verlust kämpfen: Wo einst Liebe und Lebensfreude zwischen ihnen war, gibt es jetzt nur noch den Tod und den unüberwindbaren Schmerz. Beide werden von Trauer zerrissen, aber sie trauern nicht zusammen. Wenn das Kind einst ein Zeichen der Verbindung zwischen ihnen war, ist es jetzt ein Zeichen ihrer Trennung.

Eine Besonderheit von Gift. Eine Ehegeschichte ist, dass es um viel mehr als die Lebensgeschichten zweier Individuen geht. Es geht um die Kollision möglicher Lebenseinstellungen. Diese Kollision ist komplex und nicht in Stereotypen zu erfassen. In Gift. Eine Ehegeschichte begegnen sich zwei Menschen, die sich einmal liebten, sich aber über den gemeinsamen Verlust verloren haben. Das Besondere an dieser Begegnung ist die daraus hervorgehende Kraft: mal destruktiv, mal konstruktiv und schließlich tröstlich. Aber bevor diese tröstende Kraft freigesetzt werden kann, muss das Gelände geebnet werden, Luft, Wind und Wasser müssen fließen, damit ein Urteil gefällt werden kann, sodass Vorurteile der Empathie Platz machen können, Selbstschutz der Solidarität, Abschottung der Verletzlichkeit. „Ich hielt dich fest und du ihn, du hast ganz leise gesungen.“ Sich gegenseitig festhalten und singen, reicht das, um gerettet zu werden?

Weitere Infos zu Gift. Eine Ehegeschichte

Text: Koen Tachelet