Text
In dem norwegischen Schriftsteller Knut Hamsun finden sich Glanz und Abgrund, Kultur und Barbarei auf extreme Weise vereint: Zum einen ist er bestechender Dichter, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts umgeben von tiefer Armut und Bigotterie aufwächst und später einer der wesentlichen Protagonisten der literarischen Moderne wird, von Kafka, Miller, Joyce bewundert. Zum anderen ist er bekennender Nationalsozialist, der Goebbels seine Nobelpreismedaille vermacht, zu Hitler auf den Obersalzberg pilgert und ihm 1945 einen berüchtigten Nachruf schreibt, politisch verblendet bis zum Ende seines langen Lebens. Die Lust an der Provokation, Grenzüberschreitung und Maßlosigkeit stecken in seinem Leben wie in seiner Literatur, beide tragen sie scharfe, unauflöslich sich gegenüberstehende Gegensätze in sich, die wir bis heute kennen.
Hamsuns Roman Mysterien (1892), dem bekannteren Roman Hunger folgend, mit dem Hamsun sein literarischer Durchbruch gelang, ist ein aufregendes, verstörendes, delirierendes Buch. In ihm taucht ein mysteriöser Fremder, Nagel heißt er, in einer norwegischen Hafenstadt auf, in knallgelbem Anzug, mit einem Geigenkasten unterm Arm, in dem sich allerdings schmutzige Wäsche befindet, und mit einem Eisenring am Finger, an dessen wundersame Kraft er glaubt. Überall sorgt er für Aufsehen, nie weiß man wirklich, woran man bei ihm ist, widersprüchlich ist er, unorthodox, maßlos. Er freundet sich mit dem drangsalierten Sonderling des Ortes, Minute genannt, an, den er schützt, bezahlt und doch für einen Mörder hält. In die frisch verlobte Pfarrerstochter verliebt er sich geradezu übergriffig, ihren geliebten Hund bringt er um. Einer nicht mehr jungen Frau kauft er mit großer Pose und für eine hohe Summe einen wertlosen Stuhl ab und macht ihr schließlich einen Heiratsantrag. Er wirft mit Geld um sich und sagt doch, er habe keins. Immer ist er unterwegs, stets hat er die Hand am Abzug: Seine Gedanken sind wie Brandsätze auf den Common Sense der Bürger*innen der Kleinstadt – die Wissenschaft und der Liberalismus, das Mittelmaß vermeintlich großer Männer und das verachtete Pack, nichts ist vor ihm sicher. Er inszeniert sich permanent, er berechnet und verrechnet sich und stellt sich ständig bloß. In seiner Westentasche steckt griffbereit die Blausäure, doch sein Suizidversuch scheitert. Schließlich springt er, seinem weggeworfenen Ring nach, ins Meer. Die titelgebenden Mysterien des Romans „künden sich an, wie ein Schneegestöber von gewaltiger Kraft“, schrieb ein Zeitgenosse Hamsuns, hier läuft ein Ich Amok, verläuft sich in der Zeichenhaftigkeit der Welt, getrieben von der alten und immer neuen Frage, woran wir uns halten, um zu überleben: die Wissenschaft? Den Glauben? Die Lüge (ist sie eine)? Die Gemeinschaft? Die Gewalt? Die Liebe? Am Ende steht die Suche nach Erlösung – von der Einsamkeit, von der Schuld, von uns selbst.
Knut Hamsun: Mysterier
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Informationen zum Stück
- Mysterien
- nach Knut Hamsun
- aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel
Bearbeitung von Angela Obst - Regie: Johan Simons
- Mit: Guy Clemens, William Cooper, Sachiko Hara, Karin Moog, Anne Rietmeijer, Steven Scharf, Jing Xiang
- Dauer: 3:00h, eine Pause
- Premiere: 17.09.2021
- Sprache: Deutsch mit englischen Übertiteln
Video Inhalte
Beteiligte
- Regie: Johan Simons
- Regie: Johan Simons
- Übersetzung: Siegfried Weibel
- Fassung: Angela Obst
- Bühne, Kostüm: Anja Rabes
- Komposition: Carl Oesterhelt
- Sounddesign: Will-Jan Pielage
- Lichtdesign: Jan Hördemann
- Video: Florian Schaumberger
- Dramaturgie: Angela Obst
- Unter Beteiligung von: Musiker*innen der Bochumer Symphoniker
- Dirigentin: Magdalena Klein
- Violine: Raphael Christ, Iwona Gadzala, Christiane Gurung, Jiwon Kim, Ursula Lee, Esiona Stefani
- Viola: Marko Genero, Almud Philippsen, Aliaksandr Senazhenski
- Violoncello: Dimitrij Berezin, Christof Kepser, Wolfgang Sellner
- Kontrabass: Asako Tedoriya
- Johan Nielsen Nagel: Steven Scharf
- Johannes Grøgaard: Guy Clemens
- Dagny Kielland: Anne Rietmeijer
- Martha Gude / Kamma: Karin Moog
- Doktor Stenersen: Jing Xiang
- Bevollmächtigter: William Cooper
- Piano: Sachiko Hara
Bilder
Pressestimmen
[...] eine eigenwillige, exakt gearbeitete Inszenierung, die immer wieder Rhythmus, Tonfall und Charakter wechselt, die den Herrenmenschen im Clown und den Clown im Herrenmenschen freilegt [...]
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Hubert Spiegel
Johan Simons entdeckt in der Hauptfigur von Knut Hamsuns Roman einen Typus für die Gegenwart.
nachtkritik.de, Gerhard Preußer
Herausragendes Schauspielertheater.
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Jens Dirksen
Man genießt ein Gesamtkunstwerk aus Bühnenbild, großer Schauspielkunst des sechsköpfigen Ensembles und von Carl Oesterhelt eigens komponierter Musik, die von auf die Wände projizierten Bochumer Symphonikern großartig interpretiert wird.
Ruhrnachrichten
,
Max Kühlem
So verbindet der Abend Undurchsichtigkeit und Unberechenbarkeit mit abgründigem Witz und unaufdringlichem existenziellen Pathos. Man sollte diese eigenwillige Erfahrung nicht verpassen.
Westfälischer Anzeiger
,
Ralf Stiftel