In Lorenzaccio stellen Alfred de Musset und George Sand zwei junge Männer in den Mittelpunkt ihres 1835 geschriebenen Stückes: Der eine, Herzog Alessandro, sitzt auf dem Thron und lässt die Stadt in Dekadenz versinken, der andere Lorenzaccio de Medici, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, eben diesen Herzog zu töten. Diesen beiden gegenüber steht eine Gruppe von Bürger*innen, die diskutieren, jammern und klagen, sich aber zum geschlossenen Handeln nicht durchringen können. Nora Schlocker ist seit 2019 Hausregisseurin am Residenztheater München und inszeniert mit Lorenzaccio das erste Mal am Schauspielhaus Bochum. Im Gespräch mit Susanne Winnacker erzählt sie von ihrer Arbeitsweise, darüber, wie sie ihre Stoffe findet, und davon, was Lorenzaccio für sie interessant gemacht hat

Wenn mich nicht alles täuscht, bist du 2007 frisch von der Ernst Busch-Regiehochschule als Hausregisseurin an das Deutsche Nationaltheater Weimar gegangen, um dort vier Jahre zu bleiben. Inzwischen arbeitest du selbst als Professorin an der Berliner Hochschule. Was ist dir das Wichtigste, sowohl beim Inszenieren als auch beim Unterrichten?
Vertrauen und Respekt, inhaltliche Auseinandersetzung, Lust an der Freiheit des Spiels. Egal ob ich auf Spieler*innen im Rahmen einer Inszenierung oder Studierende an der Hochschule treffe – erst mal interessiert mich, wem ich da begegne. Im zweiten Schritt liebe ich die inhaltlich fordernde Auseinandersetzung und Reibung an einem Stoff. Zusammen denken. Und dabei – im besten Fall – als „Bande“ den eigenen Kosmos erweitern. Dann auf die Suche nach einer bildlichen Umsetzung beziehungsweise Vergrößerung gehen, um im letzten Schritt, im Fall einer Inszenierung, zu einer Partitur gelangen, auf der sich das Ensemble dann frei bewegen kann. Ich glaube Spieler*innen müssen sich einzelne Punkte eines Theaterabends in jeder Vorstellung wieder neu erringen, jede Vorstellung ist anders, und mich macht beim Zusehen nichts glücklicher, mich elektrisiert nichts mehr, als wenn Spieler*innen in dem Moment des Spiels einen Gedanken „neu“ denken. Das ist dann das, was nur das Theater – als Ort des Live-Erlebnisses und der Zusammenkunft – kann.

Du arbeitest an vielen verschiedenen Theatern und baust daher oft ein Ensemble nicht auf, sondern triffst immer wieder auf Konstellationen, die du nicht kennst. Wie näherst du dich einem komplett neuen Ensemble?
Tatsächlich sind es gar nicht so viele verschiedene Theater. Ich bin seit 2007 Hausregisseurin, zuerst war das in Weimar, dann in Düsseldorf, dann am Theater Basel und nun am Residenztheater München. Das heißt, ich habe mich die letzten 14 Jahre immer fest an Häuser gebunden. Zusätzlich arbeite ich als freie Regisseurin nur an einer Hand voll Theatern, zu denen ich eine besondere Beziehung habe, eigentlich immer auf Grund einer großen Wertschätzung gegenüber einer Spieler*in oder Dramaturg*in. Ich schätze Kontinuitäten sehr. Denn es kostet viel Kraft, sich als Gruppe zu finden, eine Sprache aufzubauen. Zuerst versuche ich immer, den Atem eines Hauses zu erahnen. Es ist wichtig, Stücke zu sehen, die Spieler*innen in möglichst vielen Rollen zu erleben, um ein Gefühl für eine interessante Besetzung zu bekommen. Eigentlich kann ich Stoffe auch nur gut vorbereiten, wenn ich mir die Spieler*innen dabei schon vorstellen, sie in meinem Kopf sprechen höre. Was natürlich überhaupt nicht bedeutet, dass es später dann auch so klingt.

Wie findest du deine Stoffe? Es gibt Regisseur*innen, die im Grunde ein Gesamtwerk erschaffen, die in der jeweils nächsten Inszenierung etwas durchstreichen oder weiter entwickeln, was sie in der Arbeit davor aus einem bestimmten Blickwinkel heraus untersucht, aufs Spiel gesetzt haben, das sie in der nächsten unter anderen Gesichtspunkten erweitern, neu erschaffen, die sich selbst, ihrer eigenen Idee damit widersprechen, um in der wieder nächsten den Menschen einen neuen künstlerischen Standpunkt anzubieten. Wie ist das bei dir?
Ich bin eine klassische Geschichtenerzählerin. Mich reizt es, mich auf der Bühne mit dem Ensemble und den Zuschauer*innen in Extremsituationen hinein zu bewegen, um große Fragen zu erörtern: Was ist der Mensch? Was ist eine Gemeinschaft? Wer wird Opfer einer Gesellschaft, und welche Schlüsse kann man daraus ziehen? Warum handeln Menschen nicht oder so selten? Dazu taugen dann sowohl klassische Stoffe wie auch moderne Texte. Wichtig ist mir, in der Sprache einen starken Partner zu haben, ich mag es, wenn ein Text klug ist und mich herausfordert. Und ich würde sagen, dass ich eine Regisseurin bin, die sich immerzu mit den Abgründen der menschlichen Seele herumschlägt. In letzter Zeit gibt es aber auch eine neue Tendenz in meinen Arbeiten – so etwas wie einen „utopischen Aspekt“. Also den Versuch, nicht immer im größten Schmerz zu enden, sondern vielleicht auch einen Handlungs- oder Hoffnungsimpuls in den Raum zu stellen. 

Wie bist du auf Lorenzaccio gekommen, und was reizt dich an diesem Stück?
Als du mir schon vor einigen Jahren zum ersten Mal von Lorenzaccio erzählt hattest, kannte ich diesen Stoff überhaupt nicht. Dann kam mir, mit etwas zeitlichem Abstand auf anderem Weg zu Ohren, dass es da ein interessantes, unbekanntes Stück gibt, ein „Attentäter“- Stück, selten gespielt, ein verschollener Schatz. Da fing ich an, mich mit dem Stoff zu beschäftigen, ihn für mich „frei zu schälen“. Ich fand den Text zunächst etwas verstaubt (durch die Übersetzung) und mäandernd, aufgrund der vielen Nebenstränge und Ortswechsel, die die Autor*innen vorgeben. Doch dann – im Zentrum des Stücks – taucht da plötzlich ein politischer Mittelteil auf, eine Zustandsbefragung der menschlichen Spezies. Ich glaube, Alfred de Musset und Goerge Sand schrieben dieses Stück aus einer tiefgreifenden Desillusion heraus. Aus dem Gefühl heraus, um die Zukunft betrogen zu sein, fragen sie mit Lorenzaccio nach dem Platz innerhalb einer Gesellschaft, die erneut von zunehmender Repression gekennzeichnet war, ohne dass der Führungswechsel zu einer dauerhaften Besserung der Verhältnisse geführt hätte. Und da wird der Stoff plötzlich ganz modern: Musset zeigt eine Gruppe von elitären Bürger*innen, die viel Unrecht sehen, nichts tun, Bescheid wissen, viel jammern und sich gegen kleine Beschneidungen ihrer Freiheiten auflehnen, aber keinerlei Bereitschaft zeigen, das größere Ganze in Frage zu stellen beziehungsweise ihren persönlichen Schutzraum zu verlassen. Dem gegenüber stehen zwei junge Männer. Nur durch Zufall sitzt der eine, als Marionette seines Schwiegervaters, auf dem Thron – der andere nicht. Beide sind sie wie zwei Teile einer Medaille, wie zwei Möglichkeiten des Seins. Und während der eine beschließt, das Spiel der Macht so lange aufs Äußerste auszureizen, bis er gemeuchelt wird, muss der andere die Macht in ihrem Zentrum auslöschen, um an ihr nicht zu zerbrechen – und zerbricht sich damit selbst. Schillernd daran ist die Drastik und auch Poesie, die in der Musset’schen Sprache stecken, die ungedämpften Empfindungen, Ambitionen der Figuren und zugleich die innere Gespaltenheit, Träumerei, Lebensgier, Melancholie. Und am Schluss – ohne zu viel verraten zu wollen – steht dann dieser (Selbst)Mörder vor den Menschen, dem Volk – vor uns – schaut uns an und wartet darauf, dass einer ihn erstechen wird: geht spazieren. Im Wissen, dass sich einer finden wird. Weil er die personifizierte Frage nach unserer Verantwortung ist. Und wir die – wahrscheinlich – nicht aushalten.

 

Nora Schlocker wurde 1983 in Rum (Österreich) geboren und studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Regie. Von 2008 bis 2011 war sie Hausregisseurin am Deutschen Nationaltheater Weimar, darauf bis 2014 am Düsseldorfer Schauspielhaus. Zudem entstanden Arbeiten unter anderem in Berlin, Wien, Stuttgart, München, Leipzig, Dresden und Mannheim. Von 2015 bis 2019 war sie Hausregisseurin am Theater Basel und ist seit 2019 Hausregisseurin am Residenztheater München. Sie verbindet eine lange Arbeitsbeziehung mit dem Autor Ewald Palmetshofer, von dessen Stücken sie einige zur Uraufführung brachte; Inszenierungen wurden zum Schweizer Theatertreffen 2016 sowie zu den 43. Mülheimer Theatertagen NRW und zum Heidelberger Stückemarkt 2018 eingeladen. Lorenzaccio ist ihre erste Inszenierung am Schauspielhaus Bochum.

Susanne Winnacker ist stellvertretende Intendantin des Schauspielhaus Bochum und Produktionsdramaturgin von Lorenzaccio.

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Interview: Susanne Winnacker