Text
Die Nerven liegen blank: Homo-Ehe, Migration, Bio-Gemüse, Feminismus – Reizthemen, die nicht nur die Stammtische und Internetforen zum Erbeben bringen. Auf der einen Seite die Mahnungen der politisch Korrekten, auf der anderen der Widerspruch: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.“ In dieser Gemengelage eines ständigen „Empört euch!“ tritt ein Mann heraus – oder besser: an den heimischen Herd – und lässt seinen Gedanken und Worten freien Lauf, während er aus feinsten Zutaten für Frau und Sohn ein mehrgängiges Menü kocht (noch so eine Zeiterscheinung). Weiß, heterosexuell, gut bürgerlich und gesund, hat er beruflich nicht ganz das Erwartete erreicht, nicht ganz die erhoffte Familie gegründet, und nun wird auch noch sein Wohnviertel gentrifiziert und demnächst wahrscheinlich unbezahlbar. Ein erschreckend normaler „Verlierer“ eben, dem von Geburt an jedoch das Gewinnen fest versprochen war.
Autorin Sibylle Berg lässt in Viel gut essen einen modernen Jedermann über den Zustand unserer Gesellschaft schimpfen, klagen, räsonieren. Aus ihm spricht „Volkes Stimme“, so offen und ehrlich, dass es … zunehmend unangenehm wird. Das „feel good“ Essen gerät sehenden Auges zu einem explosiven Cocktail aus Selbstmitleid und Wut. Es braut sich etwas zusammen im Staate Deutschland.
Sibylle Berg, vielfach für ihre Werke ausgezeichnet und eine der wichtigsten deutschsprachigen Dramatikerinnen, Romanautorinnen (Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot; Vielen Dank für das Leben; GRM – Brainfuck) sowie wache Zeitdiagnostikerin in Kolumnen und Twitter-Stilperlen, schrieb diesen schwarzhumorigen Text 2014, gewissermaßen parallel zur Entstehung der Pegida-Bewegung. Bis heute, noch dazu im Jahr der Bundestagswahl, blickt man mit diesem Monolog wie durchs Schlüsselloch einer Nation. Geschickt balanciert Berg zwischen Not und Zynismus. Zwischen Tabubruch in einem als verlogen wahrgenommenen politischen Diskurs und blankem, toxischem Rassismus.
Regisseurin Anna Stiepani interessiert sich in ihrer Inszenierung – Corona-bedingt als Film in Szene gesetzt – auch für den persönlichen, menschlichen Kern dieses politisch so inkorrekten Jedermanns. Vieles, was Sibylle Berg ihn sagen lässt, klingt reaktionär oder sozialfaschistisch. Trotzdem fällt es schwerer, als gedacht, sich davon zu distanzieren. Darin liegt die Gefahr.
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Audio Inhalte
Informationen zum Stück
- Viel gut essen
- von Sibylle Berg
- Regie: Anna Stiepani
- Mit: Bernd Rademacher
- Dauer: 0:50h
- Premiere: 01.01.1970
- Sprache: deutsch
Beteiligte
- Regie: Anna Stiepani
- Regie: Anna Stiepani
- Bühne: Lan Anh Pham
- Kostüme: Lasha Iashvili
- Dramaturgie: Vasco Boenisch
- Mit: Bernd Rademacher
Bilder
Pressestimmen
Stiepanis Inszenierung gleicht der Kamerafahrt, mit der sie beginnt. Ihr Film erweitert Bergs Stück über den Hass der abbröckelnden bürgerlichen Mitte. Er gleicht einer Gedankenfahrt aus den 1930er Jahren über das "Nie wieder" der 1950er Jahre, das sich so mächtig in das Gebäude des Bochumer Schauspielhauses eingeschrieben hat, in unsere Gegenwart, in der die westliche Demokratie kaum standhafter wirkt als eine Wellblech-Welthütte.
nachtkritik.de, Sascha Westphal
Ein bissiger, sehenswerter Kommentarauf einen im Selbstmitleid versinkenden Wutbürger.
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Sven Westernströer
Ist dieser Mann bemitleidenswert? Muss man ihm zuhören? Tatsächlich wirkt er brandaktuell – ein Wiedergänger von Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern. […] Auf jeden Fall sehenswert!
rbb Inforadio, Ute Büsing
Der dreiviertelstündige Film berührt durch Rademachers Präsenz. Er stellt seine Figur nicht bloß, radikalisiert sich leise und traurig. Er ist glaubhaft Opfer in einer Welt, die sich verändert, in der er sich nicht mehr zu Hause fühlt. Die Inszenierung arbeitet mit Einfühlung, was es erschwert, sich von dem fiesen Rassisten zu distanzieren.
Westfälischer Anzeiger
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Ralf Stiftel
Der Theater-Film „Viel gut essen“ ist eines der Lebenszeichen, die die Schauspielhäuser in den langen Lockdown-Monaten senden: Kleine Formate, die sich trotz aller Arbeitsbeschränkungen verwirklichen lassen, und in diesem Fall auch mit einem klaren gesellschaftspolitischen Statement.
Das Kulturblog
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Konrad Kögler