Regisseur Florian Fischer im Gespräch mit Vasco Boenisch und Jasmin Maghames über die Uraufführung Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat nach den Werken von Hervé Guibert
Wann hast du zum ersten Mal von Hervé Guibert erfahren?
Den Namen habe ich erstmals bei Didier Eribon gelesen, in Rückkehr nach Reims. Aber ich bin damals dem Namen noch nicht weiter nachgegangen.
Eribon schreibt in seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Buch über seinen Werdegang vom Arbeiterkind, das seine Homosexualität entdeckt, in die französische Intellektuellenszene von Paris, wo auch Guibert in den 1970er- und 1980er-Jahren verkehrte. Beide stammen aus der gleichen Generation.
Ich habe allerdings erst mal Guillaume Dustan gelesen, der eine Generation jünger als Guibert ist und noch viel expliziter über Sex schreibt, etwa über Barebacking, also ungeschützten Analverkehr, als politische Dimension, als Akt der Selbstzerstörung, indem man den eigenen Körper der Gefahr aussetzt. Das machte für mich eine Linie zu Kathy Acker und Fragen nach Sexualität auf.
Du hast 2018 in Gent eine Aufführung nach einem Roman von Kathy Acker inszeniert, To Name Herstory, damals übrigens auch schon mit Risto Kübar. – Wie kam Guibert dann doch noch in dein Leben?
Das war in der ersten Phase der Corona-Pandemie. Frühjahr 2020, gerade waren meine Proben am Schauspielhaus Wien abgebrochen, und ich las Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Das war krass. Too much.
Zu viel im Sinne von: zu hoffnungslos?
Ja, die Pandemie, die man überall draußen erlebte, doppelte sich plötzlich mit der Aids-Pandemie im Buch. Dieses Wechselspiel löste bei mir Interferenzen aus, geradezu chemische Reaktionen im Körper. Im Grunde ähnlich der Situation von Guibert. Wobei es für ihn natürlich noch viel extremer war, da er die Pandemie am eigenen Körper erfuhr – und es dabei geschafft hat, während er sie durchlebte, darüber zu schreiben. Nicht in Form eines Tagebuchs, sondern literarisch, in einer besonderen Abstraktion, Reflexion und Formalisierung.
Dein Erstkontakt mit Guibert war also erst mal eine harte Probe.
Erst mal war es abstoßend. Ich war überfordert und konnte ich mich nicht auf ihn einlassen. Das Buch lag dann eine Weile. Ich bin später über seine Fotografien wieder zu Guibert zurückgekommen.
Ist dieser Annäherungsprozess typisch für dein künstlerisches Arbeiten?
Diese Epiphanie, die viele Künstler*innen beschreiben: „Ich wusste, das ist das Material!“, habe ich nicht. Für mich ist es wichtig, einem Stoff immer wieder zu begegnen. Wenn man etwas, zwei-, dreimal für sich entdeckt, dann hat es eine Triftigkeit, sich damit künstlerisch zu beschäftigen. Guibert tauchte schließlich in meiner theoretischen Auseinandersetzung mit Pandemien erneut auf, und so habe ich mich angenähert. Daraus ist eine Faszination für sein Können entstanden.
Was genau fasziniert dich an ihm?
Zum einen sein handwerkliches, literarisches Können. Aber noch mehr seine Fähigkeit der Selbstbeobachtung. Die ist das Schwierigste.
Inwiefern?
Ich denke dabei an die Heisenbergsche Unschärfetheorie: Atome haben Elektronen, die um die Atomkerne herumschwirren, und wenn man versucht, zu einem bestimmten Zeitpunkt den Ort eines Elektrons zu bestimmen, kann man das zwar tun, aber dadurch entsteht eine Unschärfe, in der man nicht mehr weiß, wo die anderen sind. Es geht also um die Unfähigkeit, ein Gesamtbild zu beschreiben, wenn man in die Tiefe geht. Auf Guibert bezogen: Wenn man so konzentriert auf sich selbst guckt, verliert man die Schärfe für das Drumherum. Daraus entsteht ein Hang zum Narzissmus – der ja durchaus bei Hervé Guibert auch gegeben ist. Weil wir uns selbst nicht angucken können, brauchen wir Menschen um uns, die uns spiegeln. Und dieses Wechselspiel beherrscht Guibert extrem gut.
Denn er setzt sich permanent ins Verhältnis zu seinen Liebhabern, Freunden, Bekannten, die er in sein literarisches und auch fotografisches Werk miteinbezieht.
In diesem künstlerischen Konzept merkt man Guiberts Nähe zu Michel Foucault. Die beiden waren ja nicht nur private Freunde. Foucault legte das diskursive Gerüst – etwa die Fragen von Machtverhältnissen in zwischenmenschlichen Beziehungen –, und Guibert kannte das offensichtlich sehr gut, wobei er schreibt, ohne Foucaults Gedanken theoretisch zu übernehmen; er schreibt sozusagen die künstlerische Umsetzung. Und dies auch noch autofiktional, also künstlerisch mit den eigenen autobiografischen Erlebnissen spielend.
Wie stark brauchten Guibert und Foucault einander?
Sehr! Ich weiß gar nicht, ob nur Guibert etwas aus Foucault zog oder nicht auch Foucault aus Guibert. Es war eine Interdependenz. Sie brauchten sich gegenseitig für das, was sie machten. Darin lag auch die Intimität zwischen ihnen. Sie waren miteinander verwoben. Vielleicht sind es gar nicht zwei Individuen, sondern sie sind eins. Sie werden dann ja auch eins in ihren Schicksalen.
Michel Foucault erkrankt an Aids und verstirbt 1984, Hervé Guibert erhält 1988 sein positives HIV-Testergebnis, ahnt die Erkrankung aber schon früher.
Das ist etwas, was wir in der Inszenierung immer wieder zeigen: Situationen, die nicht aus den Figuren selbst heraus entstehen, sondern dass sie sich in einer Hypersensibilität und Hyperwachsamkeit gegenseitig anschauen: Ist der eigene Körper noch ertragbar? Ist das Virus, das man in sich trägt, außen schon sichtbar? Hat der Andere Symptome?
So entsteht Gemeinschaft in einer Situation größtmöglicher Angst und Sorge.
Im gegenseitigen Spiegeln erzählt sich auch etwas über Communities, über die Auflösung von Individualismus. Das ist toll.
Das betrifft letztlich nicht nur das Verhältnis zwischen Guibert und Foucault, bei denen die Inszenierung die Entwicklungsschritte der Krankheit teilweise parallelführt, auch wenn es historisch anders ablief. Es gibt darüber hinaus die Wechselbeziehungen zwischen Hervé und Vincent (seinem jugendlichen Lover), Hervé und Jules (seinem langjährigen Partner) und Hervé und Claudette (seiner Krankenschwester) – natürlich jeweils auf unterschiedliche Weise. Und, nicht zu vergessen, zwischen Hervé und Bill, jenem titelgebenden Freund, der ihm das Leben nicht rettet.
Wir erleben vier, fünf unterschiedliche Ausformungen von Liebe und Intimität zu- und miteinander. Das ist für mich auch der ungeschriebene Untertitel der Inszenierung: Intimität in Zeiten von Krankheit. Welche Auswirkungen hat eine zunächst noch unbekannte, nicht zu greifende lebensbedrohliche Krankheit, später dann die spezifische Diagnose und das Hoffen auf irgendeine Form von Rettung, gleichzeitig das Mitansehenmüssen von Agonie und Tod der engsten Freunde, wie wirkt sich all das auf Sozial- und Liebesbeziehungen aus. Und zwar auf ganz unterschiedliche: erotische, väterliche, platonische.
Wir müssen Hervé Guibert dankbar sein, dass er sein eigenes Leben und Sterben – aber eben auch das seiner Freunde – in dieser Form hinterlassen hat. Selbst wenn er dabei mitunter ziemlich indiskret vorgegangen ist.
Dass Guibert in der Figur Muzil gewaltvoll Foucault outet, der nicht offen schwul und offiziell an Krebs gestorben war, erzählt nicht nur etwas über Guibert selber, sondern auch über seine Zeit. Heute fände ich einen solchen Vorgang inakzeptabel. Damals jedoch, 1990 inmitten der Pandemie, angesichts von Foucaults Status, verstehe ich das Politische an diesem Akt.
Sprich: Wenn Rosa von Praunheim 1991 Alfred Biolek und Hape Kerkeling im Fernsehen outet, ist das vertretbar, wenn Harald Schmidt das 1995 mit Bettina Böttinger macht, nicht.
Auf eine Art ja. Abgesehen davon, dass Schmidt das für eine schäbige Pointe auf Böttingers Kosten getan hat, während von Praunheim Homosexualität zu einer größeren gesellschaftlichen Akzeptanz verhelfen wollte. Wir müssen spezifisch kontextualisieren. Es gibt keine allgemeine Antwort, ob es ok ist, jemanden zu outen.
Mit seiner Form der künstlerischen Verarbeitung der aufkommenden Aids-Pandemie hat Guibert einen exzeptionellen Weg gewählt und wird jetzt, 30 Jahre nach seinem Tod, wiederentdeckt, sowohl als Schriftsteller als auch als Fotograf. Selbst wenn sein Werk noch andere Themen und Geschichten umfasst, gilt er doch als ein Pionier der Aids-Literatur und eben auch der Autofiktion, die gerade sehr populär ist. Was macht ihn für das Theater interessant?
Wir erzählen an diesem Abend nicht nur von den Erlebnissen und Ereignissen, sondern gezielt von Hervé Guibert als Person. Wir versuchen, uns dieser Figur zu nähern: dem Schriftsteller, dem Fotografen, dem Bobachter, der am Leben festhält, der schwankt zwischen Angst vorm Tod und Hingezogensein zu ihm.
Insbesondere in Guiberts Fotografien findet sich eine Faszination für den Tod. Er fotografierte anfangs viel im anatomischen Institut, er setzte seine greisen Großtanten in Szene, sich selbst sogar schon als vorweggenommener Leichnam unterm Bettlaken.
Ich kann diese Faszination für den Tod gut nachvollziehen. Was einen ängstigt, zieht einen auch an. Guibert schreibt über alles vor dem Tod, er schreibt so lange, wie er kann. Und die Sätze werden immer länger; denn solange man schreibt, ist man noch nicht tot.
Der Prozess des Schreibens – und auch des Fotografierens – sind für diese Inszenierung genauso wichtig wie die Handlung selbst. Warum?
Wir haben hier einen Autor und Fotograf, oder genauer: einen Autor, der fotografisch schreibt, und einen Fotografen, der literarisch ablichtet, und wir beschäftigen uns mit ihm auf dem Theater. Theater ist ephemer, Literatur und Fotografie dagegen sind materiell – das ergibt sehr interessante Spannungen. Wenn Bücher und Fotografien geschaffen werden, um etwas zu hinterlassen, um nicht zu sterben, um nicht vergessen zu werden, um am Leben festzuhalten – wie erzählt man davon auf dem Theater, wo alles flüchtig und vergänglich ist? Deshalb gehört zu unserer Aufführung auch, dass wir diese Medien reflektieren.
Eine künstlerische Antwort sind Reenactments von Fotografien von Guibert.
Guiberts Fotografien sind oft stark stilisiert, schwarzweiß, haben bewusst gewählte Sichtachsen, sie folgen klar einer Absicht der Selbstfiktionalisierung. Wir stellen nun diese Fotografien nach, reproduzieren sie live auf der Bühne, und zwar dank der ausgeklügelten Bühnenbildkonstruktionen von Jonathan Mertz einerseits offensichtlich nur zweidimensional, anderseits perspektivisch so plastisch wie möglich. Der Vorgang und die Absicht eines fotografischen Moments werden so theatral erlebbar.
Und parallel zum gesprochenen Wort erscheinen Texte auf einem LED-Screen: meist auch von Guibert selber, ergänzende Kommentare, mitunter auch im Widerspruch zu dem Gesagten.
Es geht mir um eine Differenzierung von Wahrnehmung. Es macht einen Unterschied, ob man einen Satz hört oder liest. Trotzdem hoffe ich, dass am Ende des Abends alle diese Medien miteinander verschwimmen und man nicht mehr weiß, ob man das Foto gesehen hat oder ob es beschrieben worden ist, ob man den Satz gelesen oder ihn gehört hat. Theater kann das.
An sich sind die Texte von Hervé Guibert erst einmal wenig theatral. Es gibt bei ihm wenige direkte Dialoge, einiges noch in indirekter Rede, aber vor allem viele Nacherzählungen von Erlebtem und Schilderungen eigener Gefühle. Dennoch wolltest du daraus keinen Monolog machen.
Für mich macht es Sinn, einen solchen Stoff auf dem Theater zu verhandeln, wenn man zum einen über das Medium Theater selber nachdenkt und wenn man zum anderen dem Stoff sogar etwas hinzufügt. Das ist hier die Anwesenheit von Körpern, von dezidiert kranken Körpern. Hierin parallelisieren sich im Übrigen die beiden Pandemien, Aids und Corona. Es geht nicht um den Körper, der zu Hause oder isoliert ist. Sondern um die simultane Anwesenheit von Materien, von lebenden Organismen, die wiederum Organismen in sich tragen, das Virus. Das erforschen die Spieler*innen gerade in den Proben. Und da wird es für mich spezifisch theatral. Denn die Texte sind ja nicht theatral. Wahrscheinlich wurden sie deshalb auch noch nicht auf dem Theater inszeniert. Aber diese Grundannahme, dass da ein Körper steht, von dem wir annehmen, dass er krank ist und diese Krankheitsstadien durchläuft, in der Spiegelung mit drei anderen Schauspieler*innen-Körpern, die wahlweise krank oder nicht krank sind – das macht es theatral. Das ist im Jetzt.
Das „Drama“ entsteht demnach vor allem in den Köpfen des Publikums.
Richtig. Ob das durch psychologisches Spiel ausgelöst wird, durch Abstraktion, Choreografie – als Zuschauer möchte ich etwas sehen, was in mir den Gedanken anstößt, wie es beispielsweise ist, mit einer tödlichen Krankheit im Bett zu liegen. Da muss ich noch nicht einmal über Aids nachdenken, sondern schlicht über eine tödliche Krankheit. Diese Form von Theater interessiert mich, dass Gefühle und Gedanken nicht auf der Bühne repräsentiert werden, sondern in den Zuschauer*innen entstehen.
Welche Parallelen zum eigenen Leben – etwa heute in der Corona-Pandemie – sollte demzufolge das Publikum über die Aids-Pandemie der 1980er-Jahre hinaus erfahren?
Es gibt ja nicht nur die eine Wahrnehmung der Corona- Pandemie. Jemand, der mit sechs Kindern in einer 70-Quadratmeter-Wohnung lebt, hat eine ganz andere Pandemie erlebt als zum Beispiel ich, der ich im ersten Lockdown am Land und viel draußen war. Wahrscheinlich findet jede* r im Publikum bei anderen Elementen der Aufführung Anschluss und damit Ähnlichkeiten – oder auch Unterschiede. Wir reden im Theater immer von der Identifikation des Publikums mit der Rolle. Ich glaube aber, dass die Erfahrung des Andersseins genauso wichtig ist. So formt sich Identität, die ja nie statisch ist. Man lernt auch über sich selbst, wenn man weiß: Das ist anders als bei mir. Natürlich vibrieren die beiden Pandemien miteinander, aber sie sind auch kreuzverschieden. Die Stigmatisierung von HIV-Erkrankten war eine ganz andere, die Lebensbedrohlichkeit ist eine andere, der ganze Verknüpfung mit Sexualität unterscheidet sich. Aber worüber wir alle miteinander reden können, ist, wie die Öffentlichkeit reagiert und was das erzählt. Beim 100.000 Aids-Toten gab es in der New York Times eine kleine Spalte unten auf Seite 18. Bei 100.000 Covid-Toten waren die Titelseiten voll. Welche Aufmerksamkeit schenken wir, welche Hilfsprogramme werden durch Regierungen initiiert, wenn nicht nur der gesellschaftliche Rand bedroht ist!?
Mit Minderheiten-Geschichten von der Mehrheitsgesellschaft erzählen?
Nicht nur das. Ich meine nicht nur die Haltung: Man erkennt die Entwicklung einer Gesellschaft daran, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Ich meine auch eine direkte Betroffenheit. Die Genauigkeit, mit der wir an diesem Abend von Aids in den 1980ern erzählen wollen, führt im Zweifelsfall zu einer größeren Gültigkeit, als wenn wir von vornherein einen breit angelegten Pandemie-Abend machen würden. Das ist ein Paradox, aber so funktioniert es, denke ich. Es ist ein Trugschluss, dass es mehr bedeuten würde, wenn man „die Breite“ erzählen würde; über die Erfahrung spezifischer Geschichten entfaltet sich eine breite Wirkung.
Und dennoch ist sicher bei vielen erst mal der Reflex: „Ah, ein schwuler Stoff.“ Da muss man dann erwidern: Ja, ein schwuler Stoff, durchaus – aber deswegen für dich als Nicht-Schwule*r nicht weniger relevant.
Gerade habe ich ein Zitat von Fred Moten gelesen: „The coalition emerges out of your recognition that it’s fucked up for you, in the same way that we’ve already recognized that it’s fucked up for us. I don’t need your help. I just need you to recognize that this shit is killing you, too, however much more softly, you stupid motherfucker, you know?“ – Übersetzt in etwa so: „Verbundenheit entsteht aus der Erkenntnis, dass die Lage für dich beschissen ist, genauso, wie wir bereits erkannt haben, dass sie für uns beschissen ist. Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich will nur, dass du erkennst, dass diese Scheiße auch dich umbringt, wenn auch viel sanfter, du blöder Wichser, kapierst du?“ – Damit will ich sagen: Auch die anderen Körper kriegen etwas ab, vielleicht schwächer. Wir machen mit dieser Inszenierung nicht nur etwas für Minderheiten. Das sind nicht nur Minderheitenthemen. Jede*r ist betroffen.
Während der Proben haben wir erfahren, dass es damals auch im Ensemble des Schauspielhaus Bochum mehrere Personen gab, die an Aids erkrankten und hier verstarben. Das waren Tänzer aus der Kompanie von Reinhild Hoffmann, die Anfang der 1990er zum Schauspielhaus gehörte. Diese Männer, die oft keine Angehörigen hier hatten, wurden damals sehr intensiv von Kolleg*innen des Theaters gepflegt und betreut, insbesondere von Frauen. Du hast darauf hingewiesen, dass wir mit dieser Aufführung jetzt auch deren Schicksale auf der Bühne sichtbar machen, 30 Jahre später.
Das sind Verwandtschaften, die da entstehen, zwischen den pflegenden Frauen und Männern und den Patienten. Auch wir machen jetzt mit den Bühnenfiguren eine Verwandtschaft zu den damals Erkrankten auf. Es gibt eine Verwandtschaft zu Édouard Louis, dessen Buch Wer hat meinen Vater umgebracht ihr in der vergangenen Spielzeit adaptiert habt und der wiederum ein geistiger Verwandter von Hervé Guibert ist. Wenn wir es als Theater schaffen, auf all diesen Ebenen zu agieren und das nach außen zu vermitteln, dann versteht eine Stadtgesellschaft, warum diese Theaterorte wichtig sind.
In unserer Aufführung gibt es auch eine pflegende Person, gespielt von Gina Haller, deren Figur sich aus dem Arzt Dr. Chandi sowie der Krankenschwester Claudette zusammensetzt, die in Dem Freund nicht vorkommt, sondern nur in dem späteren Buch Mitleidsprotokoll. Welche Bedeutung hat diese Figur für dich?
Was wir da machen, ist eigentlich Reparative History. Das ist ein dekolonialer Fachbegriff, der davon ausgeht, dass man Geschichte reparieren, vervollständigen, gesundmachen kann. Mein Vorwurf an Hervé Guibert und diese ganze weiße intellektuelle Schicht ist, dass sie nur um sich gekreist sind, um sich als Männer, und die pflegenden Frauen fast keine Erwähnung finden. Auch für die Länder Afrikas, die noch mal ganz anders von Aids betroffen waren, gab es keinen Blick. Ich verstehe, dass man erkrankt um sich selbst kreist. Aber 30 Jahre später können wir diese Lücke schließen, weil wir wissen, dass es anders war, dass nämlich viele schwule Aidskranke von Schwarzen Frauen gepflegt worden sind.
Ist es unsere Aufgabe als Kunstschaffende, die Geschichte „vollständiger“ zu machen?
Ja, das finde ich. Und der blinde Fleck im Hinblick auf Frauen betrifft nicht nur Guibert, viele Autoren aus diesem Umkreis. Selbst Eribon schreibt vor allem über seinen Vater; es gibt, glaube ich, bei ihm nur drei Absätze über die Mutter. Auch Édouard Louis: Zunächst arbeitet er sich an seinem Vater ab und schreibt erst später ein kleines Buch über seine Mutter (Die Freiheit einer Frau).
Zwischen dem Hervé von Risto Kübar und der Figur von Gina Haller entwickelt sich eine besondere Form von Intimität.
Und die übersteigt zum Teil das, was, etwa im zweiten Teil der Aufführung, eine „normale“ Ärztin mit einem Patienten tun würde. Ginas Figur repräsentiert auch ein größeres, vielschichtiges System von Care, also von gesundheitlicher Versorgung einerseits und zwischenmenschlicher Sorge andererseits. Und diese Art von Carefulness ist im Übrigen etwas, was wir gerade – auch im Theater – mehr brauchen als Konfrontation. Wir sind durch die anhaltende Pandemie, das Erleben einer Klimakrise und die Aushöhlung unserer sozialen Bindungen durch den voranschreitenden Spätkapitalismus so wund, dass die Geste der Sorgfalt und Hinwendung für mich die interessantere ist.
Diese Carefulness ist auch in deinem Umgang mit den Spieler*innen und dem Team zu erleben.
Zum einen finde ich grundsätzlich, dass wir im Theater die Moral, die wir auf der Bühne vertreten, auch miteinander im Arbeitsprozess leben sollten. Mir ist es immer wichtig, die Bedürfnisse aller Beteiligten, von der Schauspielerin bis zur Kostümhospitantin, zu respektieren und frage deshalb nach jeder Probe danach. Bei dieser Inszenierung kommt hinzu, dass wir auf der Bühne mit expliziter Nacktheit arbeiten, also auch die Intimität der Spieler*innen berührt ist. Hierfür war es eine große Hilfe, mit einem Intimitätscoach zu arbeiten, der uns sowohl Hinweise gegeben hat, Dinge professionell und präzise zu bezeichnen, sensibel füreinander zu sein, und der nicht zuletzt den Spieler*innen handwerkliche Tipps für bestimmte Aktionen geben konnte. Beim Film ist so etwas selbstverständlich, im Theater noch selten.
Im Roman lässt Guibert den sterbenskranken Muzil sagen, als er im Krankenhaus besucht wird: „Man denkt immer, es gebe über diese Art von Situation etwas zu sagen, und jetzt gibt es eben überhaupt nichts zu sagen.“ Was würdest du Hervé Guibert gern fragen, wenn du könntest?
Ich habe eigentlich immer Angst, meinen Vorbildern oder Idolen zu begegnen, weil ich befürchte, dass dann meine Projektionen zusammenfallen.
Ist Guibert ein Idol für dich?
Schon, in seiner Fertigkeit der Selbstbeobachtung. Wie er noch im Moment des Erlebens, ohne zeitlichen Abstand, sich und seine Situation reflektiert. Wir müssen uns vorstellen, dass er damals ja absolut solistisch war, es gab keine Referenzwerke im Schreiben über eine Krankheit aus dieser bestimmten Sexualität heraus. Mich beeindruckt die Direktheit seines Schreibens, so klar zu denken und dafür eine künstlerische Form zu finden. Außerdem hatte er jenseits der Krankheit auch ein wirklich gutes Leben. Ich glaube, er hatte auch viel Spaß, ist viel gereist, hat ordentlich gefeiert, Drogen genommen, guten Sex gehabt … auch insofern ein Idol.
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