Für das Editorial unseres neuen Programmbuchs sprachen Intendant Johan Simons und Chefdramaturgin Angela Obst über Panik, radikale Möglichkeiten, Allianzen und auch ein kleines bisschen über die Spielzeit 2023/2024
Angela Obst: Johan, lass uns mal über die nächste Spielzeit reden und über unsere künstlerischen Pläne.
Johan Simons: Dann sollten wir mit der Inszenierung Der Würgeengel. Psalmen und Popsongs anfangen. Sie hatte zwar schon Anfang März 2023 Premiere, aber die Probenzeit hat einen Gedankenraum geöffnet, der für uns auch in Vorbereitung der nächsten Spielzeit wichtig wurde, in dem wir uns längerfristig niedergelassen haben.
Angela: Ich weiß noch, dass wir uns im vergangenen Sommer fragten, was als Nächstes käme. Die Covid-19-Pandemie war damals zwar halbwegs beherrschbar geworden, saß uns aber noch in den Gliedern. Außerdem herrschte nun Krieg in unmittelbarer Nachbarschaft, Russland war in die Ukraine eingefallen …
Johan: … und nicht zu vergessen die unabweisbaren Zeichen der Klimakatastrophe.
Angela: Genau. „Die Einschläge kommen näher“, so sagt man doch. Damals fiel mir dieser etwa 50 Jahre alte Film von Luis Buñuel wieder ein, Der Würgeengel, in dem eine Abendgesellschaft plötzlich nicht mehr den Salon verlassen kann, obgleich die Türen weit offenstehen, und zunehmend verzweifelt und erschöpft der Rettung harrt. Diese paradoxe Situation – nicht aus einem offenstehenden Raum gelangen zu können – hat uns sofort elektrisiert. Weil das auf eine Art wir sind: mit so vielen Instrumenten, so viel Wissen ausgestattet, um es richtig zu machen auf diesem Planeten – und es dann so richtig zu versauen.
Johan: Ich wollte mich diesem Paradoxen, Absurden des Daseins ausliefern. Es ging mir nicht mehr darum, einen ganzen Bogen zu erzählen, mit Anfang, Mitte und Ende, sondern gebrochene Linien zu zeichnen, Linien, die entstehen und dann abbrechen. In diesen Linien steckt ein Lebensgefühl, das ich untersucht habe: das der Panik. Das ist auch meine Panik. Panik angesichts einer Krise, der man nichts entgegenzusetzen weiß. Bis in die Panik im Würgeengel ein Kind einbricht.
Angela: Also die Zukunft. Eine andere Zeitdimension. Und eine andere psychische Struktur. Dieses Kind unterbricht ja den panic room.
Johan: Allen, außer diesem Kind, läuft die Zeit ab. Uns allen, mir auch. Auf eine Art ist diese Inszenierung deshalb auch ein Selbstporträt geworden. Ich merke, dass ich gerade alles, was ich lese, mit dieser Färbung der Panik lese. Das meine ich gar nicht melodramatisch, das hat auch einen großen Reiz.
Angela: Wenn ich Dostojewskijs Roman Die Brüder Karamasow lese, den du im Herbst 2023 inszenieren wirst, fällt mir diese Überhitzung, die permanente Bewegung der Figuren auch auf. Sie alle sind über 1.200 Seiten hinweg mehr oder weniger atemlos.
Johan: Ja, sie wirken, als müssten sie sich beeilen, als sei nicht mehr viel Zeit für die letzten Dinge, die letzten Worte. Wie heißt dieses prominente Wort bei Dostojewskij, das unübersetzbar ist?
Angela: надрыв. Es bedeutet in etwa Überspannung, zum Beispiel wenn gespannte Haut reißt. Oder auch die psychische Überspanntheit. Der ganze Kosmos von Dostojewskij lässt sich mit diesem Wort greifen.
Johan: Darin steckt eben auch Panik. Nehmen wir Büchners Danton, mit dem sich der Regisseur Robert Borgmann bei uns beschäftigen wird: Beim gescheiterten Revolutionär Danton führt Panik zu einer Lähmung, er weiß nicht, wie weiter, ihm wird klar: Oh mein Gott, ich treffe in Panik Entscheidungen, die einfach nicht mehr stimmen.
Angela: In einem Gespräch von uns beiden tauchte mal dieses Bild auf von uns als Gesellschaft: Wir rennen auf eine Wand zu, und es sind nur noch wenige Meter bis zum Aufprall. Und jetzt halten wir dieses Bild an: Was tun mit diesen letzten Metern, diesen letzten Sekunden? Uns interessieren in diesem verbliebenen Raum nicht die Erschöpfung oder das Apokalyptische, sondern die Chancen. Dass auch diese Spanne Zeit voller Möglichkeiten steckt.
Johan: Voller radikaler Möglichkeiten! Wir müssen schnell, kreativ und mutig sein. Jede Sekunde, die ich lebe, habe ich das Gefühl, dass ich die Welt beschmutze. Man fühlt sich jetzt immer schuldig. Natürlich bin ich für eine bessere Welt, aber wie schafft man das? Es liegen so viele Probleme offen zutage, wo anfangen?
Angela: Meine zehnjährige Tochter sagt manchmal, wenn wir am Küchentisch über die Krisenherde der Gegenwart sprechen: „Ich kann jetzt nicht weiterreden, es ist einfach zu viel und zu groß.“
Johan: Das verstehe ich. Aber sie ist ein Kind. Wir Erwachsenen haben die Verantwortung, vor der wir uns nicht drücken dürfen.
Angela: Weißt du, als 2020 während des ersten Lockdowns alles mal angehalten wurde, hieß es überall: „Wir nutzen diese Atempause. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir unsere Gesellschaft gerechter, nachhaltiger, verantwortlicher aufstellen. Wir machen diesen neoliberalen, entfremdeten, hochtourigen Bullshit nicht mehr mit.“ Kaum ging alles wieder los, hat sich das Rad noch schneller gedreht als zuvor.
Johan: Dabei geht es doch darum zu erkennen, dass wir Menschen nicht die Krone der Schöpfung sind.
Angela: Ja, dieses auch anthropozentrisch genannte Weltbild, demzufolge die Menschen den Mittelpunkt allen Seins bilden und die restliche Natur nur in Relation zu uns zu betrachten ist, ist längst überholt. Überhaupt haben sich dieses elende Hierarchisierungsdenken – immer muss jemand oben und jemand unten stehen! – als auch die künstliche Trennung von Natur und Mensch als Irrwege herausgestellt. Auch davon hat die Pandemie gekündet. Es geht doch vielmehr darum, die Abhängigkeiten zu erkennen und die Verbindungen zu suchen, die Kreuzungen, Verflechtungen – im Denken und im Leben. Und Allianzen zu schaffen. So wie wir im Theater nicht von der Bühne herab predigen wollen oder uns anmaßen, es richtig zu wissen, sondern einen gemeinsamen Denk- und Versuchsort ermöglichen möchten. Für die Inszenierung der Brüder Karamasow planen wir, beide Bühnen am selben Abend zu bespielen, sodass das Theaterstück durch das ganze Haus tost, Spielende und Publikum verbindet, in einem großen Meer voller Gedanken, voller Ideen, voller Emotionen, voller Zweifel und immer wieder einem Zipfel Hoffnung. Oder Trost. Was tröstet dich eigentlich, wenn du Panik spürst?
Johan: Das Erste, was mir einfällt, ist Musik. Kennst du die Große Fuge von Beethoven? Das ist Musik, die in die Ewigkeit sieht. Er hat sie stocktaub komponiert, kurz vor seinem Tod. In ihr hört man plötzlich schon das 20. Jahrhundert. Einfach revolutionär. Aber wenn ich jetzt so nachdenke: Was mich weitaus am meisten tröstet, was mich glücklich macht, ist ein guter Gedanke.
Angela: Oh ja, das gefällt mir. Ein Gedanke, der den Blick weitet, der überraschend ist, aus einer anderen, ungeahnten Richtung kommt, der die Behaglichkeit des eigenen Weltbildes ins Wanken bringt. Das hat auch was mit unseren Proben zu tun. Wir sitzen ja immer lange am Tisch und lesen und reden, bevor du dann szenisch probierst. Ganz oft schweigen wir auch. Und manchmal begegnet uns ein guter Gedanke. Und den geben wir dann mit auf die Bühne. Auf dass er den Spieler*innen und dem Publikum ein bisschen Luft unter die Flügel bläst, neue Schubkraft gibt. Damit es weitergeht. Dann entsteht bestenfalls ein vitaler pulsierender Raum zwischen Spieler*innen und Publikum.
Johan: Der französische Philosoph Bruno Latour hat diesen einfachen, aber fantastischen Gedanken formuliert, dass man die Augen zum Himmel heben muss, wenn man von der Wissenschaft spricht, aber zur Erde senken, wenn man von der Religion spricht. Die Gottesdienste haben die Blickrichtung falsch gewählt! Das finde ich einen riesig guten Gedanken. Oder kennst du die These – ich glaube sie ist von Slavoj Žižek –, dass wir uns eher das Ende der Welt vorstellen können, als das Ende des Kapitalismus? Kein fröhlicher Gedanke, aber auch ein kluger. Ich fürchte, er hat Recht.
Angela: Das heißt, es gibt noch zu wenig Fantasie in der Welt. Also ist die Aufgabe vom Theater doch eigentlich klar.
Johan: Mehr Fantasie! Die Blickrichtung ändern!
Angela: Jetzt haben wir gar nicht über die ganzen anderen Stoffe und Stücke gesprochen, die wir in der nächsten Spielzeit planen.
Johan: Müssen wir auch nicht. Show, don’t tell, wie es immer heißt. So, Zeit für eine Zigarette.
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