Am 1. Juni 2023 ist die Schauspielerin Margit Carstensen im Alter von 83 Jahren verstorben. Sie gehörte mehr als zehn Jahre zum Ensemble des Schauspielhaus Bochum und war hier in unzähligen Rollen zu erleben. Das Theater und seine Mitarbeitenden trauern um eine großartige Schauspielerin und liebe Kollegin.
„Es gibt Schauspielerinnen, die Rollen virtuos verkörpern, einfühlsam und expressiv – und es gibt, nein ,gab‘ müssen wir jetzt leider sagen, eine Schauspielerin wie Margit Carstensen. Stets war sie so viel mehr als ihre Rolle, als das, was man gemeinhin von der Figur erwartete. Sie war ein Bühnen-Wesen, auch wenn das viel zu kitschig für Margit Carstensen klingt, mit einer unvergleichlichen Aura: hoch gewachsen und doch flirrend zerbrechlich, hanseatisch spröde konnte sie wirken und war gleichzeitig so wunderbar subtil gewitzt. Sie war ein Unikat. Eine Ausnahmeschauspielerin auf den deutschsprachigen Bühnen und insbesondere eine unvergessliche Künstlerin, deren Name und Wirken für immer mit dem Schauspielhaus Bochum verbunden sein werden“, so Chefdramaturg Vasco Boenisch.
Ensemblemitglied Jele Brückner, die zehn Jahre mit ihr die Garderobe geteilt hat, ergänzt: „Margit war eine ganz besondere Kollegin. Nach den Vorstellungen ging sie immer sofort nach Hause, selbst auf ihren eigenen Premierenfeiern war sie nicht. Das konnte schroff wirken, und sie war mitunter auch recht kategorisch in ihren Urteilen über das Theater und über Künstler*innen; aber wer sie besser kannte, merkte schnell, wie warm und wertschätzend sie war. Eine sehr kluge Spielerin mit einer großen Zärtlichkeit gegenüber der Sprache und gegenüber Menschen. Für mich verkörperte sie stets beides: die große Fassbinder-Ära der glorifizierten Frauen, und gleichzeitig war sie bis zum Schluss eine extrem moderne Schauspielerin in der Art, wie sie Texte durchdachte, hinterfragte und spielte. Und, ja, sie war auch sehr, sehr lustig.“
Margit Carstensen wurde 1940 in Kiel geboren und absolvierte die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Engagements führten sie ans Deutsche Schauspielhaus Hamburg, nach Bremen, ans TAT in Frankfurt/Main, an die Freie Volksbühne und das Schillertheater in Berlin, nach Stuttgart, Essen und an das Bayerische Staatsschauspiel in München. 1995 wechselte sie mit dem Regisseur und Intendant Leander Haußmann nach Bochum, mit dem sie fortan immer wieder zusammenarbeitete.
Gleich in dessen epochaler Eröffnungsinszenierung Die Vaterlosen spielte Margit Carstensen die weibliche Hauptrolle Anna Petrovna Vojniceva. Es folgten zentrale Partien in Inszenierungen von Leander Haußmann wie die Lady Bracknell in Bunbury, Kreon in Antigone, Annie in Misery nach dem Thriller von Stephen King, die Celia Peachum in der Dreigroschenoper (von „verschlamptem Divencharme“ schwärmte damals der Theaterkritiker Wolfgang Höbel), Gunhild Borkman in John Gabriel Borkman sowie die Titelpartie in Werner Schroeters Racine-Inszenierung Phädra. Unvergessen bleibt auch ihre Interpretation des Kapitän Haken, also Captain Hook, in Leander Haußmanns Bochumer Abschiedsinszenierung Peter Pan.
In der Intendanz von Matthias Hartmann (2000 bis 2005) folgten Partien wie die Leontine in Triumph der Liebe (Regie: Patrick Schlösser), Sybil Birling in Ein Inspektor kommt (Regie: Patrick Schlösser), die Mutter in Die Marquise von O. (Regie: Ernst Stötzner), Martha Brewster in Arsen und Spitzenhäubchen (Regie: Gil Mehmert), die Gräfin Geschwitz in Lulu (Regie: Christina Paulhofer), Sinaida Sawischna in Iwanow (Regie: Matthias Hartmann) und wiederum die Mutter in der "Nietzsche-Trilogie" (Regie: Ernst Stötzner).
Unter Intendant Elmar Goerden blieb sie ab 2005 zunächst im Ensemble und arbeitete später als freie Schauspielerin weiterhin in Bochum. Als Martha in Wilhelm Genazinos Lieber Gott mach mich blind im kleinen Theater unter Tage (Regie: Christian Tschirner) sorgte sie ebenso für tragikomische Lacher wie als Lady Markby in Ein idealer Gatte (Regie: Armin Holz). Ihre letzten Auftritte an der Königsallee hatte sie 2007 als lebensweiser Lord Jaques in Wie es euch gefällt (Regie: Elmar Goerden) und 2010 in Roland Schimmelpfennigs Uraufführung Der elfte Gesang (Regie: Lisa Nielebock).
Das Schauspielhaus Bochum und seine Mitarbeitenden, von denen etliche noch viele Jahre mit Margit Carstensen zusammengearbeitet haben, werden sie in herzlicher und dankbarer Erinnerung behalten.
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